Der mündige Mensch

Seit es den Menschen gibt, befindet er sich auf einem individuellen Entwicklungsweg. Dieser wiederum ist eng verbunden mit einer übergeordneten Menschheitsentwicklung. Der Mensch erlebte sich in früheren Zeiten noch eingebunden in die gesamte Schöpfung (wie es heute noch bei Naturvölkern zu beobachten ist) und war noch auf eine Führung von außen durch verschiedene Herrschaftsformen angewiesen. Über einen langen Zeitraum löste sich der Mensch schrittweise aus dieser natürlichen Verbundenheit mit der Welt und machte sich auf den Weg, neue Formen der Führung zu finden.

Im Kleinen lässt sich diese Bewegung des Herauslösens in der Kindheits- und Jugendentwicklung betrachten. Ein Kind erlebt sich in den ersten Lebensjahren als eins mit seiner Umgebung und in seinem Tun lebt eine kindliche Leichtigkeit und Unbekümmertheit. Im Laufe seiner Entwicklung wächst es aus diesem Eins-Sein mit der Welt heraus und es wird sich seiner selbst als eigenständige Persönlichkeit bewusst. Dieser Einschnitt bringt Unsicherheiten und Ängste mit sich, denn die Folgen des eigenen Tuns kommen dem Menschen nun vermehrt zu Bewusstsein.

Durch die entstandene Trennung von der Welt ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, entweder im Einklang mit der Weltenschöpfung zu leben und Aufbauendes in die Welt zu bringen oder abzuirren und somit ungesunde Prozesse zu erzeugen. Das Menschsein ist im Motiv der Freiheit gegründet, mit welchem der Mensch lernen muss umzugehen.

Wie kommt der Mensch dazu, aufbauend zu wirken und Neues in die Welt zu bringen, sich gemeinsam mit der Welt weiterzuentwickeln? Woran erkennt er, was in einem übergeordneten Sinne gut ist?

Hierzu braucht es die gedankliche Auseinandersetzung mit Inhalten, die nicht aus den eigenen, subjektiven Erfahrungen und somit dem bereits Vergangenen stammen, sondern auf die Zukunft bezogen sind. Nach Platon gibt es die Ideenwelt, die hinter den irdischen Erscheinungen lebt. Jede sinnlich erfassbare Erscheinung besitzt eine innere Bedeutung (Idee), die nicht mit den gewöhnlichen Sinnen zu erfassen ist. Um diese Bedeutung zu erkennen, kann sich der Mensch in seiner Wahrnehmung schulen.

So ist es möglich, sich in einem ersten Schritt durch Fragen beispielsweise an die Natur einer Pflanze anzunähern. Wie wirkt die Birke auf mich? Drückt sie eine Leichtigkeit aus oder eher eine Schwere? Ist sie fest und unbeweglich oder biegsam und weich? In einem zweiten Schritt beschreibe und charakterisiere ich die Pflanze und bleibe dabei frei von persönlichen Sympathie- und Antipathiegefühlen. Im gewöhnlichen Alltagsleben beurteilt der Mensch in der Regel sehr schnell die Dinge nach Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit. Jedoch ist diese Herangehensweise subjektiv gefärbt und erfasst nicht die Natur, die Idee der Sache. Berücksichtige ich die oben genannten Schritte und übe ich mich in einem differenzierten Beschreiben, so nähere ich mich einer höheren Wahrheit an. Diese besitzt eine übergeordnete Gültigkeit, wirkt freilassend und kann ebenso von anderen Menschen nachvollzogen werden. Auf diese Weise kann der Mensch auch andere Sachverhalte und Themen betrachten und diese auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen.

Menschen, die auf diesem Schulungsweg bereits fortgeschritten sind, beispielsweise Personen wie Rudolf Steiner oder Heinz Grill, können hilfreiche Hinweise zu dieser über-sinnlichen Welt geben. Diese Hinweise können nach einer ausreichenden Beschäftigung vom Übenden nachvollzogen werden. Die Gedanken gewinnen an Intensität und Klarheit und im Menschen reift ein Verstehen heran, das sich im Gefühlsleben vertieft und dieses durch den Wahrheitsgehalt bereichert. Im Weiteren wird der Mensch den Inhalt immer mehr selbst wahrhaftig und lebendig ausstrahlen und so in seinem ganzen Sein verwandelnd und erbauend auf die Welt wirken. Der mündige Mensch führt aus einem höheren Ideal heraus sein Denken, Fühlen und Wollen und setzt es emphatisch in Beziehung zur Welt. So wird aus einem Geführt-sein von äußeren Autoritäten eine Führung von innen, eine Selbstführung.

Mahatma Gandhi lebte das Prinzip von ahimsa, der Gewaltlosigkeit

Wenn ein Mensch beispielsweise das Ideal des Friedens entwickeln und in sein Leben integrieren möchte, kann er sich mit Menschen beschäftigen, die bereits eine Gewaltlosigkeit entwickelt haben und durch ihr ganzes Dasein ausstrahlen. Durch diese Auseinandersetzung und durch entsprechende Fragen (Was bedeutet Friede? Wie drückt sich das im Alltag, in meinen Handlungen aus?) und eine ehrliche Selbstreflexion und Selbsterziehung verinnerliche ich immer mehr dieses Ideal und drücke es in meinem ganzen Tun aus. Ich werde unabhängig von äußeren Pflicht-Forderungen oder inneren Gewissenszwängen und beginne, aus einer höheren Freiheit heraus mein Leben zu führen.